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GAC-Vorsitzender Thomas Schneider im exklusiven Interview

Als Koordinator für die internationale Informationsgesellschaft und stellvertretender Leiter des internationalen Dienstes des schweizerischen BAKOM (Bundesamt für Kommunikation) ist Thomas Schneider seit 2008 Mitglied des ICANN-Regierungsbeirats Governmental Advisory Committee (GAC). Anlässlich des 51. ICANN-Meetings in Los Angeles wurde er am 14. Oktober 2014 zum Vorsitzenden dieses Gremiums gewählt. In unserem exklusiven Interview gibt er einen Einblick in seine Tätigkeit – und die Pläne des GAC in der Zukunft.

Herr Schneider, wie sieht ein Tag im Leben des GAC-Vorsitzenden aus?

Am Wahlabend im Oktober 2014 in Los Angeles ist meine Vorgängerin per sofort zurückgetreten. Gleichentags hatte ich die Ehre, die neue Funktion übernehmen zu dürfen. Seit ein paar Monaten erlebe ich folglich den intensiven Alltag im Leben des GAC-Vorsitzenden: Er ist geprägt von einer Schwemme an E-Mail-Nachrichten, Briefen, Berichten und weiteren Inhalten sowie Online- und Telefonkonferenzen mit anderen GAC-Mitgliedern und ICANN-Gremien. Sehr intensiv sind derzeit insbesondere die Sitzungen der Arbeitsgruppen zur Übertragung der Aufsicht über die IANA-Funktionen von der US-Regierung an die globale Gemeinschaft („IANA Stewardship Transition“) und zur Weiterentwicklung der Rechenschaftsmechanismen der ICANN („ICANN Accountability“). Diese Online-Konferenzen finden derzeit oft mehrmals täglich und rund um die Uhr statt, um die (Un-)zeiten für die Vertreter aus allen Ländern der Welt einigermassen gerecht zu verteilen. Ausserdem bin ich viel unterwegs, um an wichtigen Terminen nicht nur online, sondern auch physisch präsent zu sein.

An welchen Stellen möchten Sie während Ihrer vorerst auf zwei Jahre angelegten Amtszeit den Schwerpunkt setzen? Wo sehen Sie die Stärken des GAC, und wo sehen Sie Änderungs- oder Reformbedarf?

Das Streben nach Konsens ist grundsätzlich eine der Stärken des GAC. Um einen solchen Konsens zu erzielen, werden alle Themen soweit wie möglich ausdiskutiert und schlussendlich ein gemeinsames „Communiqué“ – vergleichbar mit den Resolutionen der UNO – verfasst, hinter welchem alle stehen können. Dies erlaubt es allen Staaten, ob gross oder klein, ihre unterschiedlichen Ansichten in den Entscheidfindungsprozess einzubringen.

Damit der Konsens im GAC für die Staatengemeinschaft repräsentativ ist, müssen sich möglichst viele Regierungen aktiv und gleichberechtigt bei den Arbeiten und Debatten, wie aktuell etwa bei der Vergabe neuer Top-Level-Domains oder den gegenwärtigen Diskussionen zur „IANA Stewardship Transition“, beteiligen können.

Angesichts der zunehmenden Fülle und Intensität der Arbeiten und Themen stellen die erforderlichen Ressourcen für viele GAC-Mitglieder eine wachsende Herausforderung dar, den Prozessen zu folgen und sich aktiv einzubringen. Es ist mir daher ein Anliegen, innovative Lösungen zu finden, damit die Regierungen einerseits rascher und effizienter zusammen arbeiten können und andererseits die ICANN die Funktionsweise von Regierungen besser berücksichtigen und uns bei der Arbeit entsprechend unterstützen kann.

Derzeit werden in den genannten Arbeitsgruppen zu einer Neugestaltung der IANA-Aufsichts- und ICANN-Rechenschaftsmechanismen neue Prozesse diskutiert, die eine Weiterentwicklung der Rolle und Arbeitsweise der Regierungen im ICANN-Modell erforderlich machen könnten.

Zudem werde ich mich grundsätzlich um eine verbesserte und direktere Kommunikation unter den Regierungen, aber auch zwischen den Regierungen und den anderen Teilen der „ICANN-Community“ bemühen. Denn oftmals wurde bisher die eigentliche Rolle der Regierungen als Garanten für die Einhaltung internationalen und nationalen Rechts, inklusive der Menschenrechte, nicht von allen privaten Akteuren verstanden und der GAC als „Bremser“ oder gar als „Verhinderer“ wahrgenommen.

Wie muss man sich den Prozess der Meinungsbildung innerhalb GAC vorstellen? Und wie funktioniert aus Sicht des GAC die bisherige Zusammenarbeit mit der Internet-Verwaltung ICANN?

Wie die UNO arbeitet der GAC auf Basis des Konsensprinzips: Zuerst müssen die Regierungsvertreter in ihren Nationen eine eigene Position konsolidieren; danach geht es darum, im GAC einen globalen Konsens unter den Regierungen zu finden. Dies kann – je nach Thema – sehr zeitintensiv, manchmal sogar unmöglich sein. Um diesbezüglich vorwärts zu kommen, trifft sich der GAC jeweils im Rahmen der ICANN-Meetings – dreimal pro Jahr. Zwischen diesen persönlichen Treffen arbeiten wir zunehmend auch elektronisch per E-Mail sowie per Online- und Telefonkonferenzen in Arbeitsgruppen zusammen – sowohl GAC-intern als auch mit anderen Teilen der ICANN-Community.

Der GAC nutzt die ICANN-Meetings, um dreimal pro Jahr ein gemeinsames Communiqué zu verfassen, in welchem er auf die besprochenen Themen eingeht und Empfehlungen an den ICANN-Vorstand formuliert. Weitere Empfehlungen können auch das ganze Jahr in Briefform an den ICANN-Vorstand gerichtet werden.

Diese GAC-Empfehlungen sind für ICANN jedoch nicht bindend. Sollte ICANN entgegen den Vorschlägen des Beirates handeln, muss dies begründet werden. Zudem muss ICANN dann zumindest versuchen, im Gespräch mit den Regierungen eine Lösung zu finden, die alle akzeptieren können. So besteht auch zwischen den persönlichen Treffen ein reger Austausch zwischen GAC und der ICANN-Führung.

Es gibt Bestrebungen, zum Beispiel im Bereich WHOIS die „Daumenschrauben anzuziehen“, meist auf Wunsch nationaler Strafverfolgungsbehörden. Registries und Registrare klagen, dass sie bei der praktischen Umsetzung dieser Forderungen aber oft im Stich gelassen werden, zum Beispiel beim Zugriff auf valide Adressdaten. Gibt es im GAC Ideen, wie diese Zusammenarbeit verbessert werden könnte?

Die Regierungsvertreter im GAC haben ein Interesse, dass die Strafverfolgungsbehörden ihre Arbeit auch im Internet machen können, und zwar möglichst effizient. Dies soll in Einklang mit geltendem Recht, insbesondere mit den entsprechenden Datenschutzbestimmungen erfolgen. Die Herausforderung besteht darin, dass es diesbezüglich national unterschiedliche Regelungen gibt. Sie sind zum Teil nicht mit dem amerikanischen Recht kompatibel, dem die ICANN untersteht. Dies macht den Umgang mit dem Thema Datenschutz sehr komplex und es ist nicht ganz trivial, Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten einfach funktionieren.

Im GAC sind aktuell über 140 Staaten dieser Welt vertreten. Gibt es Pläne, weitere Mitglieder aufzunehmen?

Mitgliedschaft bedeutet nicht immer automatisch, dass auch eine aktive Teilnahme am GAC erfolgt. Obwohl die Mitgliederzahlen in den letzten Jahren um rund zehn Prozent pro Jahr gestiegen sind, ist nur ein begrenzter Teil der Mitglieder aktiv an den Arbeiten beteiligt. ICANN und GAC werden weiterhin Initiative zeigen müssen, um weitere Länder zur möglichst aktiven Teilnahme im GAC zu motivieren. Dafür werde ich mich engagieren.

Die Verwaltung des Internets mit ICANN an der Spitze befindet sich derzeit in einer spannenden Phase des Umbruchs – Sie haben das Stichwort „IANA Stewardship Transition“ bereits erwähnt. ICANN-CEO Fadi Chehadé macht sich für „NETmundial“-Initiative stark. Wie sieht die Zukunft der Internet Governance nach den Vorstellungen des GAC aus, gibt es ein konkretes Modell? Und in welcher künftigen Rolle sieht sich hierbei das GAC?

Seit dem Beginn des „NETmundial“-Prozesses vor rund eineinhalb Jahren und der Ankündigung der US-Regierung, die alleinige Aufsicht über die IANA-Funktionen unter gewissen Bedingungen abzugeben („IANA Stewardship Transition“), hat sich einiges in Bewegung gesetzt. Die Weiterentwicklung des – wie es von NETmundial genannt wird – „Internet-Governance-Ökosystems“ wird derzeit nicht nur im GAC, sondern auch in verschiedenen anderen internationalen Foren, insbesondere in der UNO, diskutiert.

Betreffend der Zukunft dieses Ökosystems bestehen unter den Regierungen im GAC ähnliche Meinungsunterschiede wie in der UNO, der ITU oder anderswo. Einen Konsens bezüglich einer Richtung dieser Entwicklung wird sich wohl nur über kleine, pragmatische Schritte ergeben können. Von entscheidender Bedeutung für die anstehenden Debatten im Rahmen des „WSIS+10-Prozesses“ in der UNO-Vollversammlung in New York im Dezember 2015 wird sein, ob man sich in den kommenden Monaten innerhalb der ICANN auf ein neues IANA-Aufsichtsmodell und auf ICANN-Rechenschaftsmechanismen wird einigen können, die auch die Unterstützung der Schwellen- und Entwicklungsländer geniessen werden.

Es wird oft der Vorwurf erhoben, ICANN werde stark von US-amerikanischen Interessen beeinflusst oder gar dominiert. Teilen Sie diese Einschätzung oder wird sie durch Ihre Erfahrungen in der Praxis widerlegt?

Hat man die Teilnehmenden der ICANN-Meetings, der verschiedenen Gremien und Arbeitsgruppen im Blick, so wird klar, dass nicht alle Regionen der Welt quantitativ gleich in den ICANN-Gremien vertreten sind. Dies hat einerseits historische Gründe – wesentliche Elemente des Internets und des ICANN-Modells wurden von US-Amerikanern entwickelt – und andererseits auch politische sowie oft schlicht ressourcenbedingte Ursachen. Dennoch dürfen wir feststellen, dass ICANN in den letzten Jahren einiges für eine breitere Abstützung auf globaler Ebene getan hat und dass diesbezüglich durchaus Fortschritte zu verzeichnen sind.

Im Jahr 2012 hat ICANN damit begonnen, eine Vielzahl neuer Top Level Domains einzuführen. Über 400 dieser neuen Domain-Endungen sind inzwischen delegiert. Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf des nTLD-Programms?

Mit neuen gTLDs waren in den letzten Jahren grosse Hoffnungen auf innovative Anwendungen und neue Geschäftsmodelle verbunden – dies gleichzeitig in Verbindung mit Ängsten vor neuen Risiken für Konsumentinnen und Konsumenten oder für Inhaber von Marken- und anderen Rechten. Bis anhin scheinen sich die Extreme in beide Richtungen jedoch nicht zu bewahrheiten.

Da erst einige neue gTLDs in Betrieb sind und das auch erst seit relativ kurzer Zeit, ist es für eine eindeutige Analyse aber noch zu früh. Zudem haben die Regierungen noch offene Fragen, die geklärt werden sollten und Forderungen, die noch nicht vollständig umgesetzt sind. Beispielsweise, dass nur Firmen Domains wie „.gmbh“ oder „.bank“ verwenden dürfen, die die rechtlichen Voraussetzungen einer GmbH beziehungsweise einer Bank im entsprechenden Land auch wirklich erfüllen oder dass Namen und Abkürzungen des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes oder von internationalen Organisationen angemessen vor Missbrauch geschützt werden.

Welche Bewerbungen um neue Top Level Domains hält das GAC für besonders problematisch, und gegebenenfalls warum?

Herausfordernd sind aus Sicht des GAC insbesondere jene Bewerbungen, die das öffentliche Interesse – global oder auch von speziell betroffenen Bevölkerungsgruppen – negativ beeinflussen können. Hierbei geht es insbesondere um mögliche Risiken für Konsumentinnen und Konsumenten oder Auswirkungen auf bestehende Rechte sowie Sensibilitäten in der realen Welt. Dazu zählen Markennamen, geografische Herkunftsbezeichnungen, Begriffe aus dem Gesundheits- oder anderen sensiblen Bereichen, aber auch religiöse und kulturelle oder andere generische Begriffe, die zumindest nach einem europäischen Verständnis Allgemeingut sind und nicht von speziellen Interessen in Beschlag genommen werden sollten.

Eines der zentralen Anliegen des Applicant Guidebook von ICANN war es, die Inhaber von nationalstaatlich begründeten Rechten wie zum Beispiel Markenrechten zu schützen. Hierzu hat man das „Trademark Clearinghouse“ neu geschaffen. Bisher liegt die Zahl der Einträge dort jedoch deutlich unter 35.000. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für die mangelnde Akzeptanz? Und wie könnte man Missbrauch wie im Fall von Marken wie „I?M?M?O?B?I?L?I?E?N“ vorbeugen?

Die Benutzung des Trademark Clearinghouses scheint insbesondere für kleinere und mittlere Unternehmen sowie für Unternehmen aus Entwicklungsländern aufwändig und allenfalls zu teuer zu sein. Viele solcher Unternehmen brauchen nur einen lokalen beziehungsweise nationalen Schutz ihrer Marke, wofür sich ein Eintrag in Clearinghouse anscheinend nicht lohnt. Über weitere Gründe können wir derzeit nur spekulieren: Womöglich halten auch „grössere“ Rechteinhaber das Trademark Clearinhouse für unwirksam oder sie vertrauen anderen Möglichkeiten, ihre Marken zu schützen. Hier wird man wohl auch noch detaillierter analysieren müssen, welche Mechanismen wie dazu beitragen, eine angemessene Balance zwischen einem Schutz der – national unterschiedlich institutionalisierten – Rechten von Markeninhabern und anderen Ansprüchen der Gesellschaft an die Nutzung von Begriffen im Domain-Namen-System zu finden.

Wenn Sie das Rad der Zeit zurückdrehen könnten: an welchen Stellen hätte das GAC das Applicant Guidebook geändert?

Ich habe mich seit meinem Eintritt in den GAC im Jahr 2008 dafür eingesetzt, dass unterschiedliche Regelwerke für verschiedene Kategorien von gTLDs erarbeitet werden. Dies, weil sowohl die Nutzer und Anwendungen als auch die potentiellen Risiken und Möglichkeiten von Domains wie zum Beispiel „.berlin“ (geoTLD), „.doctor“ (echte generische TLD) oder „.bmw“ (Brand TLD) sehr unterschiedlich sind. Der GAC hatte diese Forderung dann auch an ICANN gerichtet. Die Bewerber für die neuen gTLDs waren jedoch der Meinung, dass dies den Vergabe-Prozess unnötig verlangsamen würde und haben sich erfolgreich gegen die Schaffung verschiedener Kategorien neuer TLDs eingesetzt. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir damit viele Herausforderungen, an denen wir heute noch arbeiten, einfacher und am Ende auch rascher und günstiger hätten bewältigen können.

Zudem hätte der GAC wohl stärker darauf drängen sollen, dass vor der Lancierung der neuen gTLDs bessere Mechanismen zur Abwägung von privaten ökonomischen Interessen und Marken- und ähnlichen Rechten einerseits gegenüber einem öffentlichen Interesse an geografischen, kulturellen und anderen sensiblen Bezeichnungen andererseits geschaffen würden. Damit hätten langwierige Auseinandersetzungen um TLDs wie „.amazon“, „.patagonia“, „.spa“ oder „.wine“ vielleicht vermieden werden können.

ICANN hat angedeutet, möglicherweise bereits im Jahr 2016 mit der nächsten Einführungsrunde zu beginnen. Sieht das GAC die Zeit dafür bereits gekommen? Gibt es konkrete Änderungsvorschläge des GAC am Verfahren selbst und/oder am Applicant Guidebooks?

Der GAC begrüsst, dass Interessenten, die an der ersten gTLD-Liberalisierungsrunde nicht teilnehmen konnten, sich möglichst rasch an einer zweiten Runde beteiligen können. Dies gilt insbesondere für Bewerber aus Schwellen- und Entwicklungsländern, die in der ersten Runde nur wenig vertreten waren. Dennoch stehen nach wie vor offene Fragen der ersten Runde im Raum: Erst ein Teil der neuen gTLDs ist operationell und zuerst – so ist es auch vorgesehen – muss noch eine vertiefte Analyse über Erfolg und Probleme der ersten Runde durchgeführt werden. Viele Beobachter gehen deshalb davon aus, dass es noch eine Weile dauern wird, bis eine zweite Runde eingeleitet werden kann.

Herr Schneider, wir danken Ihnen sehr für dieses Gespräch.

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